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Titel
Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Auflage,1906–1909.


Herausgeber
N.N.
Reihe
Digitale Bibliothek 100
Erschienen
Anzahl Seiten
1 DVD-ROM
Preis
€ 235,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arne Schirrmacher, Münchner Zentrum für Wissenschafts- und Technikgeschichte, Deutsches Museum

Der vorliegende Band der Digitalen Bibliothek stellt einen Meilenstein der deutschsprachigen digitalen Medien gleich in zweierlei Hinsicht dar. Als 100. Band dieser Reihe steht er zweifellos für eine Erfolgsgeschichte des Konzepts der Digitalen Bibliothek, die nicht nur klassische Werkausgaben, Nachschlagewerke, Quellen- und Bildersammlungen preiswert (wieder) zugänglich macht, sondern durch die Such- und Verarbeitungsmöglichkeiten des digitalen Mediums einen mitunter gewaltigen Mehrwert bietet. Darüber hinaus ist aber mit der Digitalisierung des etwa 100 Jahre alten Meyerschen Großen Konversations-Lexikons eine bisher nicht erreichte Datenmenge auf eine Silberscheibe der Digitalen Bibliothek geprägt worden. Die etwa 7 GB Daten umfassen den digitalisierten Text, etwa 10.000 Abbildungen und dazu das gesamte Werk auf 23.000 Faksimileseiten. Letztere sind allerdings mehr als eine Zugabe, da nur auf diese Weise die eigentliche Quelle bewahrt und zugänglich gehalten wird. Weniger ins Gewicht fällt die gelegentlich doch noch notwendige Möglichkeit zur Überprüfung der Transkription am Original, wenn etwa Scanfehler übersehen wurden (etwa: "Hafen" statt "Hasen", "wieder" statt "wie der") oder auch bei mathematischen Formeln.

Die Software der Digitalen Bibliothek ist häufig genug beschrieben und gelobt worden, daher mag es hier genügen darauf hinzuweisen, dass sie von der vorliegende DVD für alle gängigen Windows-Versionen und für MacOS ab Version 10.2 leicht zu installieren bzw. zu starten ist und im Vergleich zu älteren Versionen lediglich einige Erweiterungen hinzugekommen sind, die sich selbstverständlich einfügen. (So kann man etwa mit der Tastenkombination Ctrl-A zum entsprechenden Faksimile wechseln.) Die Systemvoraussetzungen für Windows sind minimal (ab 486 und 32 MB Arbeitsspeicher), für MacOS moderat (128 MB Arbeitsspeicher). Natürlich muss ein DVD-ROM Laufwerk vorhanden sein. Lediglich der Programmstart dauert deutlich länger als bei anderen Bänden der Digitalen Bibliothek, wohl aufgrund des großen Indexes. Die Such- und Blätterfunktionen bestechen aber wieder durch ihre hohe Geschwindigkeit. Die Nutzerfreundlichkeit zeigt sich auch darin, dass man leicht verschiedene Bände auf die Festplatte kopieren und zugleich benutzen kann. (Bei dem Meyer kann man sich bei Verzicht auf das Faksimile und ggf. auch die Bilder auf die Textbasis von einigen hundert MB beschränken, die im Verzeichnis "Data" vorliegt.) So ist etwa der aufschlussreiche Vergleich mit dem Kleinem Konversationslexikon, das 1906 bei Brockhaus erschienen ist, ein Kinderspiel, da dieses auch heute wieder als kleiner und preiswerter digitaler Konkurrent als Band 50 der Digitalen Bibliothek erschienen ist 1.

Welches Unternehmen die Produktion des 20bändigen Meyer bedeutete und welche inhaltliche Tiefe und thematische Balance es anstrebte, wird wesentlich besser noch als durch die Einleitungen zur Original- und Digitalausgabe durch den eigenen Eintrag zu Meyers Bibliografischem Institut in Leipzig auf den Sonderseiten und Tafeln des Bd. 13 deutlich (die eigentümlicherweise leider nicht als Faksimile vorliegen!): Der reproduzierte Grundriss des Gebäudes und die Bildertafel der vielfältigen mechanischen und lithografischen Werkstätten vermitteln ein Bild der umfangreichen materiellen Kultur, die mit der Sammlung, Ordnung und Kartografierung des Wissens des 19. Jahrhunderts verbunden war. Tafeln und Text wie diese eröffnen dem Leser den Reichtum der technischen und wissenschaftlichen Kultur einer Epoche, in der das Wissen über mechanische Rechenmaschinen (11 Abbildungen), eine detaillierte Beschreibung des Berliner Rohrpostsystems, die vielfältigen Leuchterscheinungen von Kathodenstrahlen oder geodätische Messinstrumente wichtige Rollen spielen. Allein zu letzteren findet man zwei Tafeln, wo der kleine Brockhaus von 1906 nur sechs Zeilen und der heutige 15bändige gerade mal ein Foto und eine Schemazeichnung bieten.

Damit zeigt sich die wesentliche Bedeutung des Lexikons für den Historiker: Es leistet unverzichtbare Dienste vor allem für die Wissenschafts- und Technikgeschichte des 19. Jahrhunderts, indem es einen vielfältigen Kosmos der Erscheinungen und Erklärungen offen legt, der durch das reduktive Denken des 20. Jahrhunderts weitgehend verloren gegangen ist. Sind Röntgenstrahlen heute ein Bruchteil des gesamten Spektrums elektromagnetischer Wellen, das insgesamt erklärt werden kann, standen sie vor 100 Jahren für einen wissenschaftlich-technischen Phänomenbereich, der in detaillierten Beschreibungen der Objekte und Phänomene umrissen wurde. Ähnliches leistet der Meyer für die Spektralanalyse, für elektrotechnische Apparate (die Einträge von Elektri... bis Elektro... umfassen allein etwa 100 Druck- und 17 Tafelseiten) oder auch für mechanische Maschinen aller Art. Viel stärker, als es auf den Gebieten der Geisteswissenschaften oder der Behandlung von Personen der Fall ist, erweist sich der Meyer von 1906 als unverzichtbare Ergänzung einer modernen Enzyklopädie. Er erschließt die materiellen Kultur, auf die sich unsere moderne Welt gründet, und darf keinesfalls auf einen Vorläufer heutiger Enzyklopädien – nur auf einem zurückliegenden Kenntnisstand – reduziert werden.

Bemerkenswert ist, dass dem Leser auch gerade in Hinblick auf manchen jüngeren Forschungstrend in den Geschichtswissenschaften - etwa zum Thema der Räumlichkeit des Wissens - hier eine beachtliche Quellengrundlage auf Tastendruck abrufbar gemacht wird. Wie der Grundriss des Bibliografischen Instituts für das Lexikonwesen oder der des Elektrotechnischen Institut der Technischen Hochschule in Karlsruhe für die Elektrizitätslehre, so gewähren die zahlreichen detaillierten Pläne von Bibliotheks-, Museums-, Gerichts- und Gefängnis-, Parlaments- oder Bank- und Kaufhausgebäuden eigene, z.T. überraschende Einblicke in verräumlichte wissenschaftliche und gesellschaftliche Strukturen des deutschen Kaiserreichs. Eine andere Dimension der Räumlichkeit erschließen die Stadtpläne in Baedeckerqualität (die aber bisweilen in zu geringer Auflösung digitalisiert wurden) inklusive umfassender Straßenverzeichnissen von Orten wie Breslau, Düsseldorf, Posen, Prag oder Wilhelmshaven (aber auch Kairo, Krakau oder Lyon - jedoch ohne Straßenverzeichnis).

Eine dritte Gebietskarte des Wissens, die durch die Suchfunktionen erschlossen werden kann, ist die der weiterführenden Fachliteratur. So wird beispielsweise dem niederländischen Philosophen Gerardus Heymans keine eigene Erwähnung zuteil, aber der Verweis auf mehrere seiner Werke in den Einträgen Erkenntnistheorie und Metaphysik zeigen den vorhandenen Einfluss seiner psychologisch fundierten Philosophie. Ähnlich ist der Physiker Max Planck im um 1908 erschienen 16. Band noch nicht unter seinem Namen als Wissenschaftlerpersönlichkeit zu finden (was nicht zuletzt als ein Zeichen für die zögerliche Rezeption seiner Quantentheorie gewertet werden kann), aber als häufiger Autor in den Referenzen zu grundlegenden physikalischen und chemischen Begriffen ist er bereits überaus präsent.

Was aber, wenn man sich nicht für die Rezeption von Plancks Physik um 1908 interessiert, sondern für frühere oder spätere wissenschaftliche Entwicklungen? Und wie reagierte die Ordnung des Wissens zur Jahrhundertwende auf die Moderne? Leider sind die vier Ergänzungsbände, die bis zum Anfang der 20er-Jahre die 6. Auflage wesentlich erweiterten nicht auf der DVD enthalten, sondern einem späteren Digitalisierungsprojekt vorbehalten worden. Wer sich für frühere Auflagen von Meyers Enzyklopädie interessiert, wird hingegen im Internet fündig, wo die 4. Auflage von 1888/89 mittlerweile fast vollständig verfügbar ist. 2 Im direkten Vergleich mit diesem auf private Eigeninitiative beruhenden Digitalisierungsprojekt, das gewissermaßen die public-domain Version darstellt (inklusive Volltextrecherche und Faksimiles, die sogar besser zu lesen sind), geht allerdings die Ausgabe innerhalb der Digitalen Bibliothek noch mit großem Vorsprung durchs Ziel. Wohin aber die Entwicklung geht, wird bereits deutlich: zu einer Verbindung von (oft heterogenen) Datenbeständen, wie wir sie im Internet finden, mit komfortablen Zugriffsprogrammen à la Digitaler Bibliothek.

Bislang aber besticht doch der Nutzwert der DVD, mit dem bisher kein Internetangebot gleichziehen kann. Wohl war es für Historiker immer schon üblich, historische Enzyklopädien zu konsultieren, um den zeitgenössischen Stellenwert von Personen, Ereignissen oder Objekten insbesondere für eine breite Öffentlichkeit zu beurteilen; dennoch gibt es eine Korrelation von Nutzen und Verfügbarkeit in der Art, dass allein die neuen Möglichkeiten des digitalen Mediums zu mancher Frage durchaus neue und interessante Erträge erwarten lassen.

Anmerkungen:
1 Brockhaus' kleines Konversationslexikon. Elektronische Volltextedition der fünften Auflage von 1906, Directmedia Verlag, Berlin 2001, € 49,90.
2http://susi.e-technik.uni-ulm.de:8080/meyers/servlet/index

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